Dienstag, 22. September 2015

Bremerhaven




Eine administrativ vereinte Stadtlandschaft:

 
Bremerhaven




Bremerhaven war für mehr als Jahrzehnt im politisch interessierten Deutschland durch einige wenige Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung und in der Bremer Bürgerschaft ein Gesprächsthema. Grund war die als rechts extrem eingeschätzte Deutsche Volksunion (DVU), die zwischen 1987 und 2001 mit einer Ausnahme im Jahr 1995 die 5%-Hürde im Stadtgebiet Bremerhavens überspringen konnte und damit Mandate errang. 

Diese Zeit ist inzwischen vorbei, da die DVU ihren Mäzen für ihre aufwendig geführten Wahlkämpfe, den 2013 verstorbenen Verleger Gehard Frey, verloren hat und Ende 2010 durch einen Verschmelzungsvertrag in der NPD aufgegangen ist. 

Auch wurde in den letzten Jahren viel für Bremerhaven, die westdeutsche Stadt mit einer der höchsten Arbeitslosenziffern, getan, und zwar im touristischen Bereich mit den Havenwelten einschließlich des Klimahauses und des Einkaufzentrums Mediterraneo sowie in der Offshore-Windenernegie-Industrie.

Trotzdem ist Bremerhaven hinter Gelsenkirchen die deutsche Großstadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit geblieben. So war im September 2013 jede 7. Erwerbsperson arbeitslos gemeldet.

Bremerhaven ist damit keine Stadt wie jeder andere. Sie besitzt vielmehr eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, wurde von den Medien als "braune" Stadt nicht gerade in ein gutes Licht gerückt und hat mit erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen und Rückgängen der Einwohnerzahlen zu kämpfen. 

Jetzt haben die Bremerhavener Wahlberechtigten bei den Wahl der Bremer Bürgerschaft und der Stadtverordnetenversammlung am 10. Mai 2015 in bemerkenswerter Weise auf die negative Situation und die Entscheidungen der bisherigen Mehrheit in de Stadtverordnetenversammlung reagiert.





Eine ganz besondere Stadtgründung und 
-entstehung


Städte, wie sie heute in Deutschland bestehen, lassen sich historisch auf recht unterschiedliche Gründungsanlässe und spätere Entwicklungsmuster zurückführen. Typisch sind in Mitteleuropa etwa germanische Heiligtümer an Flussüberquerungen, wo dann seit der Christianisierung erste Steingebäude als Kirchen oder Klöster errichtet wurden. Andere Städte sind am Fuße von Burgen entstanden, wieder andere später als Residenzstädte wie etwa Karlsruhe oder als Wohnorte für die Beschäftigten großer Industriebetriebe. Dazu zählen etwa Leverkusen und Wolfsburg, in kleinerem Maßstab jedoch auch der Bremer Stadtteil Blumenthal mit der Bremer Woll-Kämmerei (BWK). 


Alle diese Städte weisen für die Verteilung ihrer Bevölkerung ein relativ einheitliches Schema auf, das im Rahmen der Sozialraumanalyse untersucht und im Hinblick auf Veränderungen betrachtet wird, wie sie beispielsweise durch die heutigen Tendenzen in einer globalisierten Welt kennzeichnend sind.

Neben diesen fast idealen Formen, bei denen das Stadtgebiet ringförmig von einem Kern, also dem Dom, dem Schloss, dem Rathaus oder dem Marktplatz, nach außen wächst, findet man auch mehrpolige Städte, die in der Regel aus Verwaltungsreformen hervorgegangen sind. Ein Beispiel hierfür ist die heutige Industriestadt Oberhausen, die aus Alt-Oberhausen, Osterfeld und Sterkrade fusioniert wurde.


Noch komplexer ist jedoch die Entstehung der zweiten Stadt des Landes Bremen; denn Bremerhaven ist mehr als das 1827 von einem weitsichtigen Bürgermeister Smidt vom Königreich Hannover gekaufte Land an der Geestemündung, wo bis 1830 der heutige "Alte Hafen als künstliches Hafenbecken fertiggestellt wurde.



Bremerhaven oder Wesermünde?

Entscheidende Faktor für die fast unvergleichbare Stadttentwicklung Bremerhavens war die Landesgrenze zwischen Bremen und Niedersachsen bzw. früher dem Königreich Hannover und später Preußen. Dadurch kam es nicht zu den üblichen Eingemeindungen kleinerer Vororte, wenn sie zum "falschen" Land gehörten. Vor allem wurde dadurch jedoch die gemeinsame Nutzung größerer Infrastruktureinrichtungen erschwert. 

Einen ganz besonder brisanten Einfluss hatte jedoch die Konkurrenz um die Vorherrschaft als Hafenstadt an der Unterweser mit allen Konsequenzen.
Dieser Wettkampf setzte bereits kurz nach dem Kauf des Hafengeländes ein, als sich auch das Königreich Hannover für einen eigenen Hafen in diesem Raum interessierte. Zuvor hatte man das für die nördliche angrenzende Gemeinde Lehe abgelehnt. 

Die Fortschritte der Bremer auf ihrem gekauften Areal, das heute den Stadtteil Mitte bildet, bewirkten jedoch offenbar eine Änderung der Einstellungen, da man der Hansestadt kein vielleicht lohnendes Geschäft allein überlassen wollte. So folgte das Königreich dem Bremer Vorbild und genehmigte 1845 einen Hafenbau am südlichen Ufer der Geeste. Dieser neue Hafenort, der auf Feldern, Wiesen und Weiden entstand, erhielt 1847 den Namen Geestemünde.

Vom Wachstum Bremerhavens profitierte vor allem das nördlich angrenzende Lehe profitieren. Bremen hatte das Land für einen Hafen gekauft, sodass hier kaum Flächen für den Wohnungsbau zur Verfügung standen. Daher konnte sich Lehe als Vorort entwickeln, in dem viele Arbeiter aus Bremerhaven eine relativ preiswerte Wohnung fanden.

Eine Konkurrenz zwischen gleich drei Städten an der Mündung der Geeste in die Weser sah man offenbar in Hannover nicht als eine gute Lösung für die Entwicklung dieses Raums an. Daher vereinigte man im Jahr 1924 Geestemünde und Lehe zur kreisfreien Stadt Wesermünde, die als Sitz eines Landkreises Wesermünde besondere zentralörtliche Funktionen erhielt. Man wollte also in Preußen kein Anhängsel an Bremerhaven entstehen lassen, sondern sich einem kommunalen Wettkampf stellen. 

Das war keineswegs unrealistisch; denn Wesermünde hatte damals 72.000 Einwohner (1924), von denen etwa 60% auf Lehe entfielen. Bremerhaven als Teil Bremens besaß mit dem Hafen zwar den Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft in der gesamten Region, aber 1939, als Bremerhaven in Wesermünde durch die 4. Verordnung zur Neuordnung des Reiches durch die Unterschrift des NS-Reichskanzlers Hitler eingegliedert wurde, lebten hier nur 27.000 Einwohner. Das waren deutlich weniger als die 86.000 Einwohner im alten Wesermünde.
 

Am 21. Januar 1947 wurde dann per Deklaration Nr. 3 des amerikanischen Militärgouverneurs in Deutschland die Stadt Wesermünde Teil des Landes Bremens und damit der amerikanischen Besatzungszone. Um diese Verbindung auch sprachlich auszudrücken, nannte sich seit dem 10. März 1947 die gesamte Stadtregion Bremerhaven. 


Die soziaökologische Struktur Bremerhavens  

Damit ist Bremen aus den relativ traditionslosen Städten Alt-Bremerhaven, Lehe und Geestemünde hervorgegangen, die alle drei weder die Größe noch die Zeit für eine Ausbildung der klassischen sozialräumlichen Strukturen besessen haben. So konnte der von Bremen gekaufte Hafenbereich überhaupt nicht in den klassischen Ringen ins Umland wachen. Hier kollidierten mögliche Tendenzen mit den Absichten Hannovers bzw Preußens, die aus ihren Städten keine Vororte einer Stadt Bremerhaven machen wollten, die zu einem anderen Land gehörte. Daher gabe es auch hier Stadtmittelpunkte mit zentralen Einrichtungen.

Eine Reihe von Umland kam sogar relativ spät zum heutigen Bremerhaven. So gehören etwa WeddewardenSchiffdorferdamm und Speckenbüttel erst seit 1927 zu Wesermünde und damit später dem heutigen Bremerhaven.




                          Die Stadt- und Ortsteile Bremerhavens (Quelle: Stat. Amt)


Als Grundlage für eine sozialräumliche Kennzeichnung einiger Ortsteile können die Merkmale in der folgenden Tabelle dienen, die einerseits für diese Zielsetzung relevant und andererseits von der Stadt veröffentlicht wurden.

Strukturdaten der Bremerhavener Ortsteile


Ortsteil
Fläche
Einwohner
Dichte
Unter 18
65 und mehr
Wohndauer
(10 Jahre u.m.)
Haustyp
Ausländer-
anteil 1)
Wahlbeteiligung
Bürgerschaft 2)
Weddewarden
13,58
568
41,8
15,4
15,1
47,7
E
3,9
56,7
Königsheide
2,3
5.384

2337,8
13,1
27,7
54,2
E
3,2
49,0
Fehrmoor
2,28
2.941
1.289,9
16,5
22,2
59,7
E
2,5
48,3
Leherheide-West
1,88
7.705
4.100,6
19,8
18,7
49,8
E/M
10,0
24,4
Leherheide

16.030







Speckenbüttel
4,50
3.174
705.3
12,5
30,8
56,5
E
3,4
62,0
Eckernfeld
1,95
5.271
2.708,6
18,2
24,8
47,9
E
4,4
42,0
Twischkamp
1,25
4.378
3.510,8
10,9
23,5
45,6
M
18,6
35,5
Goethestraße
0,55
7.582
13.685,9
16,8
14,0
39,6
M
33,7
29,3
Klushof
2,23
10.090
4.518,6
18,9
16,0
40,1
M/E
13,3
33,6
Schierholz
2,66
6.224
2.340,7
22,3
16,2
47,0
E
4,4
39,3
Buschkämpen
3,24
720
222,4
12,7
26,3
56,0
E
3,5
47,8
Lehe

37.439







Mitte-Süd
7,41
5.003
675,3
7,2
34,7
39,0
M
11,7
44,8
Mitte-Nord
0,92
7.326
7997,8
14,0
19,3
38,9
M
16,0
43,2
Mitte

12.329







Geestemünde-Nord
1,93
6.890
3.573,7
8,9
24,2
38,0
M/E
8,8
43,8
Geestendorf
1,17
11.439
9.785,3
14,7
19,2
40,7
M
16,3
34,5
Geestemünde-Süd
0,66
3.014
4.559,8
9,7
31,0
47,0
E/M
9,8
37,3
Bürgerpark
4,03
5.197
1.298,6
18,2
23,3
48,4
E
10,9
45,5
Grünhöfe
3,20
6.141
1.922,1
20,2
18,8
47,4
E/M
23,9
33,0
Geestemünde

32.681







Schiffdorferdamm
4,53
2.470
545,4
15,7
22,4
56,5
E
4,0
53,0
Surheide
3,01
2.933
975.1
15,5
26,6
60,1
E
3,8
54,2
Dreibergen
1,60
5.813
3637,1
17,7
21,5
46,0
E/M
22,4
38,3
Jedutenberg
4,02
5.362
1.334,1
14,9
23,6
54,8
E
6,7
50,5
Bremerhaven
93,82
114.148
1.216,7
15,7
21,7
46,1
E/M
13,1
40,5
Quellen: 
http://www.bremerhaven.de/stadt-politik/stadtinformation/statistik-und-zahlen/
http://www.bremerhaven.de/downloads/39/80556/Bevoelkerungsstand_2014.pdf
http://www.bremerhaven.de/downloads/39/86718/Bremerhavener+Strukturdatenatlas+2014%2C+Teil+A+-+Ortsteil+111.pdf
http://www.bremerhaven.de/downloads/39/86752/Bremerhavener+Strukturdatenatlas+2014%2C+Teil+C+-+gesamtes+Stadtgebiet.pdf



Auch wenn sich aufgrund der zur Verfügung stehenden Sozialdaten Bremerhaven eine Typzuordnung vor Informationsdefziten steht und zudem aufgrund die Ausdifferenzierung der Sozialräume wegen der besonderen Stadtentwicklung weniger ausgeprägt ist, lassen sich einige Muster erkennen.

Das sind zunächst die Innenstadtbereiche der drei Ausgangsstädte, die mit den Ortsteilen Mitte-Süd und Mitte-Nord, Klushof und Geestendorf auch eine ausgeprägte Wohnfunktion haben.

Einen weiteren sehr deutlich erkennbaren Raumtyp stellen die suburbanen Ortsteile dar, die bereits ganz äußerlich an der dominierenden Bebauung mit Einfamilienhäusern zu erkennen sind. Hier leben viele Einwohner bereits seit über 10 Jahren, was sich auch in dem hohen Aneil von über 65-jährigen niederschlägt. Zudem findet man in diesen Wohngebieten mit ihrer stabilen Einwohnerschaft nur wenige Ausländer. Damit erreichte die Wahlbeteiligung im Musterbeispiel Speckenbüttel zumindest für Bremerhaven den hohen Wert von 62 % in der Bürgerschaftswahl 2015. Vergleichbar, wenn auch weniger ausgeprägt, gilt diese Zuordnung auch für die Ortsteile Weddewarden, Königsheide und Fehrmoor im Norden, Buschkämpen im Osten sowie Schiffdorferdamm, Surheide und Jedutenberg im Südosten.


Den sozial benachteiligte Gebiete, die in Bremen im Rahmen des WiN-Konzepts besonders gefördert werden, entsprechen von diesen Daten her Leherheide-West und Goethestraße.

Trotz der aktuellen ähnlichen Problemlage unterscheiden sich beide Quartiere aufgrund ihrer Geschichte und Architektur jeoch deutlich. Der Ortsteil Goethestraße befindet sich westlich der für Lehe zentralen Hafenstraße und besitzt einen fast geschlossenen Altbaubestand, der teilweise von ganz besonderer architektonische Qualität ist. Allerdings wird in diesem Viertel der Bevölkerungsrückgang der letzten Zeit sehr deutlich, da es viele Leerstände und Abrisse gibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Bremerhaven ähnlich wie in Bremen Großsiedlungen gebaut, die allerdings nicht den Umfang der Neuen Vahr oder von Tenever erreichten. Beispiele sind Leherheide und Surheide, wobei hier bereits 1937 unter dem Namen "Otto-Telschow-Stadt" begonnen wurde.

In Leherheide entstanden in den 1960-er Jahren 3.500 Wohnungen überwiegend in vier-bis achtgeschossigen Häusern. Ergänzend kamen einige Hochhäuser hinzu, die von Gartenhofhäusern bzw. Atriumhäusern eingerahmt wurden.

Daneben gibt es die in allen Städten vorhandenen gemischt strukturierten Gebiete, die teilweise durch die Bildung statistischer Durchschnitte für zusammengefasste kleine Sozialräume entstehen können.




Bremerhaven als beliebter Startplatz für kleine Parteien


Aufgrund des Bremer Wahlgesetzes kann Bremerhaven auf kleine Parteien einen besonderen taktischen Reiz ausüben. Bei Landtagswahlen, die in Bremen Bürgerschaftswahlen genannt werden, besteht das keinste deutsche Bundesland mit den Städten Bremerhaven und Bremen aus zwei getrennten Wahlbereichen. Dabei wird die 5 %-Sperrklausel in jedem der beiden Wahlbereiche getrennt angewendet. Dadurch kann eine Partei oder Wählervereinigung, die über 5 % der Stimmen in Bremerhaven erreicht, in die Bremer Bürgerschaft, also ein Landesparlament, einziehen. Dieses Wahlresultat wird dann fast zwangsläufig von den Medien erheblich stärker wahrgenommen als ein ähnlich hoher Stimmenanteil bei der Wahl für einen Stadtrat einer Stadt von gut 100.000 Einwohnern.

Der Einzug einer Kleinpartei in ein Landesparlament ist immer eine Nachricht, und das vor allem dann, wenn es sich nicht um eine "langweilige" Wählervereinigung aus der politischen Mitte handelt. Eine gehörige Portion Aufmerksamkeit ist daher bei einem erfolgreichen Sprung über die 5 %Hürde in Bremerhaven gesichert. Dem stehen aufgrund der geringen Größe des Wahlbereichs vergleichsweise geringe Koten gegenüber, wenn man etwa an das Plakatieren ausschließlich in einem Stadtgebiet und die Verteilung von Flyern an die Haushalte denkt. Bremerhaven bietet damit ein fast ideales Kosten-Nutzen-Profil: vergleichsweise geringe Ausgaben und mediale Aufmerksamkeit, die als Grundlage für weitere Kandidaturen dienen kann.


Die DVU-Jahre im sozialräumlichen Rückblick


Vor der Gründung der Wählervereinigung Bürger in Wut (BiW) im Jahr 2004 hat die Deutsche Volksunion (DVU) diese Besonderheit des Bremer Wahlgesetzes besonders geschickt für ihre Zwecke genutzt.

Anteile de DVU bei de Bürgerschaftswahlen in Bremen (Land) und Bremerhaven (in %)


Wahljahr
Bremerhaven
Bremen
Sitze
1987
5,4
3,4
1
1991
10,1
6,2
6
1995
4,7
2,5
-
1999
6,0
3,0
1
2003
7,1
2,3
1
2007
5,4
2,7
1
2011
2,3
1,6
-
Quelle: wikipedia, Neu, S. 21
1987: Liste D, 1 Sitz in Bremerhaven
2011: NPD

In ihrer Hochzeit galt die DVU in Bremerhaven als eine "klassische Wahlkampfpartei", wie es im Bremer Verfassungsschutzbericht von 2009 (S. 23) heißt. Der Grund hiefür war, dass ihre Aktivitäten offenbar an anderer Stelle -vermutlich am Sitz ihres Mäzens in München - am grünen Tisch geplant wurden, und zwar aufgrund des besonderen Wahlgesetzes und der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Stadt und vieler ihrer Bewohner. Offenbar wollten die Initiatoren mit einem relativ kleinen Mitteleinsatz eine große Wirkung erzielen. Das ist ihnen dann auch ohne den langwierigen Aufbau breiter Parteistrukturen in Bremerhaven gelungen. So konzentrierte man sich auf die Wahlkämpfe, für die umfangreich plakatiert wurde. Auf diese Weise verfügte die DVU kaum über Stammwähler oder gar aktive Mitglieder, die sich mit der kommunalpolitischen Situation vor Ort beschäftigten, sondern um Protestwähler, die vor den Wahlen aktiviert werden mussten. Dazu dienten schon vor Jahren Slogans, die gegen kriminelle Ausländer und eine Islamisierung des Abendlandes gerichtet waren.




                                          Wahlplakat 1998 (Quelle: unimut)


In seiner Dissertation über „Die rechtsextreme DVU in der Bremerhavener
Stadtverordnetenversammlung“ macht Denis Ugurcu einige Ortsteile, insbesondere im Stadtteil Lehe, als „Hochburgen“ der DVU aus. Dabei wird deutlich, dass in einigen Gebieten eine hohe Zustimmung für die DVU mit einem hohen Ausländeranteil und verbreiteter Arbeitslosigkeit korrespondiert. 

Ugurcu weist jedoch darauf hin, dass auch Ortsteile, in denen Einfamilienhäuser das Bild prägen, in denen die Einwohnerfluktuation nicht hoch ist und in denen der Ausländeranteil signifikant niedrig ist, die DVU über Jahrzehnte als wählbar erachtet wurde. (Ugurcu, S. 128)

Betrachtet man die Wahlergebnisse der DVU bei der letzten Kommunalwahl in allen Ortsteilen, zeigt sich daher für den Autor deutlich, dass eine Fixierung auf „Problembezirke“ nicht angebracht ist: Zwar gibt es Ausreißer nach unten wie in Speckenbüttel mit 2,2 % und nach oben mit leicht über 10 % im Ortsteil Goethestraße, aber mit Ausnahme dieser beiden Bezirke bewegten sich 2007 die Ergebnisse der DVU in allen Ortsteilen zwischen 3,2 % und knapp 9 %. 



Anteile der DVU 2007 (dunkelbraun: hoher Anteil, hellgrau: sehr geringer Anteil) (Quelle: Stat. Landesamt, 2008, S.26)

Zu diesem Wahlergebnis liegt auch eine breite kleinräumige Analyse duch das Stat. Landesamt vor. Darin werden zwei Aspekte betont: zum einen konnte die DVU in 12 von 23 Ortsteilen die 5 %-Hürde überspringen und zum anderen bekam sie die meisten Stimmen in den Ortsteilen, in denen auch die
Linke sehr stark war. Das waren die Ortsteile Goethestraße mit 10,0 % und Fischereihafen mit 9,1 %, wobei der letzte wegen der geringen Einwohnerzahl inzwischen kein eigener Wahlbezirk mehr ist. (Landesamt, S. 23)

Trotz der relativ geringen sozialräumlichen Ausdifferenzierung des Stadtgebietes wird damit dennoch eine von der Sozialstatistik her nicht ganz unerwartete Zuordnung herausgestellt: in einem besondern intakten Wohngebiet mit der üblicherweise höchsten Wahlbeteiligung von Bremerhaven blieb die DVU sehr schwach, während sie in einem sozial benachteiligten Quarter wie der Goethestraße eine Hochburg mit einem zweistelligen Ergebnis besaß.

 


Bremerhaven 2015: mehr Machtwechsel, aber weniger Aufsehen als in Bremen



Die letzte Wahl am 10. Mai 2015 führte in Bremerhaven zu einigen Resultaten, die sich vor der skizzierten sozialräumlichen Struktur der Stadt leichter einordnen und interpretieren lassen.



                                 Quelle: Landeswahlleiter

Nach dem Resultat gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Weserstädten, denn in Fishtown hat die SPD kaum verloren. Hingegen büßte ihr grüner Koalitionspartner mit über 10 Prozentpunkten fast die Hälfte seines Stimmenanteils ein. Damit ist die Ökopartei wieder nach ihrem Höhenflug aufgrund der Fukushima-Katastrophe auf den dritten Rangplatz zurückgefallen.

Bremerhaven 2011-5


Partei20112015Differenz
SPD34,334,0-0,3
Grüne21,811,2-10,6
CDU20,123,9+3,8
Linke4,67,0+2,4
BiW7,16,5-0,6
FDP3,15,5+2,4
AfD-5,0+5,0
Piraten2,02,5+0,5
DIE PARTEI    -1,8+1,8
Quelle: Stat. Landessamt


Von diesen hohen  prozentualen Verluste der Grünen haben, wenn man die vielen Gewinner dem Stimmmenteil nach aufzählt, die AfD, die CDU, die Linke und die FDP besonders profitiert. Aber damit ist die Aufzählung der kleinen Sieger noch nicht einmal zu Ende; denn auch die Partei "DIE PARTEI" und die Piraten haben 1,8 bzw. 0,5 Prozentpunkte erhalten. Offenbar führten beide Kleinparteien einen intensiven Wahlkampf, da es in Bremerhaven relativ preiswert ist, dank einer guten Kampagne mit dem Überspringen der 5 %-Hürde in nur einer kleinen Großstadt in ein Landesparlament einzuziehen.

Das ist beiden Parteien jedoch nicht gelungen. Auch die AfD hat das mit einem Anteil von nur aufgerundeten 5,0 nicht geschafft In Bremerhaven scheinen sich die AfD und die Bürger in Wut in die Quere gekommen zu sein, denn die Wutbürger konnten hier ihren Anstieg seit 2007 nicht mehr fortsetzen und mussten 0,6 Prozentpunkte abgeben. Mit 6,5 % hat es jedoch zu einem Sprung über die 5% und damit die Verteidigung des Mandats in der Bremer Bürgerschaft gereicht.

Allerdings wurden die Anstrengungen der kleinen Parteien durch die gleichzeitig stattgefundene und eng mit der Bürgerschaftswahl verzahnte Wahl zur Stadtverordnetenversammlung belohnt, für die keine Sperrklausel gilt. Hier ist es den vereinten kleinen Kräften sogar dank der extremen Schwäche der Grünen gelungen, die rot-grüne Mehrheit im Stadtrat zu beenden.

In der Stadtverordnetenversammlung mit ihren 48 Sitzen sind jetzt elf Parteien bzw. Wählervereinigungen vertreten, wobei es in vier Fällen nur zu einem Sitz gereicht hat.


Durch die Wahl hat Rot-Grün die komfortable Mehrheit von 27 Sitze verloren und muss sich jetzt mit 22 Sitzen begnügen. Zur Mehrheit fehlen damit drei Sitze, die sich durch Absprachen mit der Linken oder der FDP zumindest in Teilfragen sichern lässt. Allerdings wird man Zugeständnisse machen müssen und nicht nach dem Motto „Weiter so wie bisher“ handeln können.



Wahl zur Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung 2015
 SPD 
33,1
 +0,0 
 16 Sitze 
0
 GRÜNE 
  11,1
 -11,5 
   5 Sitze 
-6
 CDU 
  24,4
 +4,4 
 12 Sitze 
+3
 DIE LINKE
  6,9
 +2,3 
 3 Sitze 
+1
 BIW 
  7,2
 -0,2 
 3 Sitze 
0
 FDP 
  5,2
 +1,9 
 3 Sitze 
+1
 PIRATEN 
  2,8
 +0,6 
 1 Sitze 
0
 NPD 
  1,3
 -0,9 
 1 Sitze 
0
 AfD 
4,7
 +4,7 
 2 Sitze
+2
 Die PARTEI 
  2,0
 +2,0 
 1 Sitze
+1
 Bündnis 21/RRP
  0,2
-1,1
Kein Sitz
-1
 Milchert
  1,1
 +1,1 
 1 Sitze
+1
Quelle: wikipedia


Zu noch größeren relativen Verschiebungen als dem Verlust von 11,5 Prozentpunkten und damit einer Halbierung der Stimmenzahl, wie sie die Grünen insgesamt in Bremerhaven erlitten haben, ist es in einigen Ortsteilen gekommen.



Wahl zur Bürgerschaft in Bremerhaven 2011 (Stimmenanteile der Parteien in %)

Ortsteil
WB
SPD
CDU
Grüne
Linke
FDP
BiW
NPD
Weddewarden
54,7
26,8
17,7
30,4
4,2
1,3
8,0
2,4
Königsheide
58,8
34,7
22,3
22,7
3,6
4,4
5,3
1,6
Fehrmoor
56,5
37,6
21,2
21,4
3,5
3,1
5,1
1,8
Leherheide-West
34,1
33,9
26,0
14,1
5,1
2,0
8,0
3,5
Speckenbüttel
68,9
29,1
27,6
27,0
2,6
5,2
4,0
1,0
Eckernfeld
52,1
34,6
19,3
23,6
4,3
2,8
7,4
1,8
Twischkamp
40,5
36,9
15,1
19,7
6,4
1,5
8,9
3,2
Goethestraße
34,0
29,6
12,0
24,4
8,5
2,0
8,8
4,8
Klushof
40,4
31,7
16,9
23,0
6,2
2,7
7,6
3,2
Schierholz
49,4
30,1
26,3
20,4
3,6
3,4
8,7
1,4
Buschkämpen
55,6
32,9
20,1
18,2
3,6
2,0
16,1
1,3
Mitte-Süd
49,5
33,6
23,2
19,9
4,8
3,9
5,4
1,9
Mitte-Nord
48,5
34,6
15,3
25,3
5,8
2,7
6,0
1,9
Geestemünde-Nord
50,5
33,0
22,4
21,2
4,6
2,9
6,1
2,5
Gestendorf
42,5
33,3
17,8
22,1
5,2
2,9
7,9
3,3
Geestemünde-Süd
46,3
41,0
14,0
17,8
5,3
1,6
10,6
2,6
Bürgerpark
52,1
31,8
26,1
22,7
3,0
3,5
6,3
1,0
Grünhöfe
42,7
37,9
18,3
18,0
5,8
2,6
8,4
2,5
Schiffdorferdamm
60,5
38,2
18,9
23,2
2,5
3,3
5,8
1,9
Surheide
65,0
42,0
18,5
21,4
3,6
3,2
4,7
3,5
Dreibergen
47,4
34,8
18,6
21,3
4,6
2,6
9,6
2,1
Jedutenberg
58,3
37,3
18,8
21,2
3,6
3,7
8,0
1,9
Wulsdorf
53,3
36,3
18,7
21,2
4,0
3,3
8,6
2,0
Fischereihafen
33,3
33,9
12,9
23,2
8,1
3,9
5,2
2,6
Bremerhaven
48,1
34,3
20,1
21,8
4,6
3,1
7,1
2,3
Quellen: http://www.bremerhaven.de/pdf/Statistik/Kurzbericht_Januar_2015/#3/z


In der Bürgerschaftswahl 2011 bestanden noch einige Zusammenhänge von denen die DVU-Analysen und Regionalauswertungen des Stat. Landesamtes berichtete hatten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Quartier Goethestraße, in dem weiterhin die Linke und die DVU ihre Bremerhavener Hochburg besaßen.

Speckenbüttel zeigte sich wieder als ein bürgerlicher Vorort mit hoher Wahlbeteiligung und erheblichen Stimmenanteilen von CDU und FDP.

Ohne enge Bezüge zu den Sozialraumtypen besaßen 2011 die Grünen ihre Hochburg in Weddewarden, die SPD in Surheide und die BiW in Buschkämpen.

Das änderte sich 2015 vor allem durch die hohen Wählerverluste der Grünen an eine Reihe konkurrierender Parteien, wobei nicht zuletzt die erstmals in Bremerhaven kandidierende Alternative für Deutschland (AfD), die Satirepartei "DIE PARTEI" und auch die Tierschutzpartei Wähler gewinnen wollten.


Wahl zur Bürgerschaft in Bremerhaven 2015 (Stimmenanteile der Parteien in %)


Ortsteil
SPD
CDU
Grüne
Linke
FDP
AfD
BiW
NPD
Piraten
PARTEI
Tier
Weddewarden
24,0
25,3
12,1
5,7
6,9
4,9
13,6
0,7
1,9
1,1
4,0
Königsheide
40,3
24,8
9,2
4,4
7,2
5,0
4,6
0,8
2,0
0,9
0,9
Fehrmoor
36,9
24,6
8,3
7,3
6,3
5,3
5,9
1,1
2,0
1,4
1,1
Leherheide-West
36,4
25,5
5,9
10,1
3,1
5,8
6,7
2,4
2,2
0,9
1,1
Speckenbüttel
28,7
31,2
10,4
5,7
11,1
3,9
4,3
0,7
1,3
1,8
0,9
Eckernfeld
34,4
22,9
14,0
6,2
5,0
4,4
7,0
1,1
2,0
1,6
1,5
Twischkamp
33,8
20,3
9,7
10,5
2,8
5,7
7,6
2,2
4,2
1,7
1,4
Goethestraße
27,9
16,1
14,9
9,3
3,0
5,4
8,4
4,8
4,9
2,8
2,5
Klushof
30,3
20,9
12,0
8,9
4,3
5,9
7,7
2,3
4,0
2,0
1,7
Schierholz
29,7
28,4
10,1
8,5
4,5
5,4
8,6
0,7
1,9
1,2
1,1
Buschkämpen
33,8
20,3
9,7
10,5
2,8
5,7
7,6
2,2
4,2
1,7
1,4
Mitte-Süd
33,4
26,1
11,8
5,9
7,3
4,0
4,8
0,9
2,8
2,1
1,0
Mitte-Nord
32,8
19,2
15,2
9,4
4,7
4,1
4,6
1,1
3,6
3,8
1,7
Geestemünde-Nord
32,9
25,0
10,6
5,8
6,3
5,2
5,9
1,7
2,2
2,5
1,8
Gestendorf
33,3
22,8
11,8
7,8
4,4
5,2
6,4
1,5
2,9
2,1
1,9
eestemünde-Süd
39,7
18,8
9,9
7,2
2,8
5,5
8,3
1,0
2,7
1,9
2,2
Bürgerpark
30,0
29,4
12,9
6,5
7,3
4,4
4,8
0,5
1,5
1,4
1,2
Grünhöfe
36,5
20,6
13,4
6,1
4,7
6,2
7,2
1,3
1,8
1,1
1,2
Schiffdorferdamm
36,6
24,1
11,3
5,0
5,7
5,7
5,9
1,1
1,6
1,8
1,1
Surheide
44,7
22,1
9,2
4,6
4,5
3,4
6,1
0,9
1,8
1,8
1,1
Dreibergen
35,0
24,5
10,8
6,1
6,0
5,2
7,2
1,4
1,5
1,2
0,9
Jedutenberg
38,3

23,5
9,3
5,5
5,8
5,0
7,2
1,2
2,2
1,3
0,9
Bremerhaven
34,0
23,9
11,2
7,0
5,5
5,0
6,5
1,1
 2,5
1,8
1,4
Quelle: Wahlatlas und Stat. Landesamt


Die alte räumliche Wählerstruktur hat sich in der Wahl 2015 im Zuge der Verluste der Grünen erheblich geändert. In dieser Wahl hat die Ökopartei besonders kräftig in ihren bisherigen Hochburgen am nördlichen Stadtrand eingebüßt. 


Hingegen wurden innenstadtnahe Altbaugebiete, ähnlich wie das auch für die Stadt Bremen bereits seit Jahrzehnten zutrifft, zu ihren neuen Hochburgen. Allerdings resultiert hier die relative Stärke aus geringeren Verlusten als in den Vororten, wo sich der Wähleranteil häufig mehr als halbierte.



                             Rudelsburg an de Goethestraße (Quelle: wikipeda (Mueck))


Das gilt vor allem für das Quartier Goethestraße, das bisher den Wahlforschern durch seinen hohen Anteile extrem rechter Wähler aufgefallen war. Hier waren am 15. Mai neben de NPD sowohl die Grünen als auch die Piraten stark, was auf ein neues Image des Quartiers hinweisen dürfte. Die vorhandene Qualität der Bausubstanz und seine Lage verwandeln das Viertel von einer Wohngegend mit einer sozial eher benachteiligten Bevölkerung in ein typisches alternatives Viertel.



                                          Quelle: Landeswahlleiter

Die Wählerentscheidung im Fall „Grauer Wall“:

Bürgernahe Umweltpolitik contra Grüne Parteipolitik



In dem eher bürgerlichen Stadtviertel Speckenbüttel im Norden Bremerhavens, in dem die CDU und die FDP ihre städtischen Hochburgen besitzen, findet man nicht nur einen großen und bekannten Stadtpark, sondern auch die Mülldeponie „Grauer Wall “.

Damit besteht hier eine brisante räumliche Nachbarschaft, die den Wohnwert eines Gebietes schnell beeinträchtigen kann. Das wird in Speckenbüttel sehr deutlich. Hier kann man einerseits mit attraktiven Freizeitangeboten werben, die u.a auch einen Wellnesspark umfassen, muss andrerseits jedoch mit einer Mülldeponie leben, die immer wieder für negative Schlagzeilen in der Presse sorgt. So kam es wiederholt zu Bränden und die Wünschen der besorgten Anwohner nach verbesserten Schadstoffmessungen und einer Analyse von Krebserkrankungen wurde von der Verwaltung praktisch nicht entsprochen.


Flyer des "Gesundheitsparks Speckenbüttel"

Vor allem mögliche gesundheitliche Gefährdungen führten zur Gründung der Bürgerintiative „Keine Erweiterung Grauer Wall (BIKEG), die u.a. versucht hat, durch eine Klage die Fortführung der Deponie zu stoppen. Das ist allerdings misslungen, sodass man jetzt auf den Kosten sitzt.

Vor der Wahl zur Bremer Bürgerschaft und der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung lag es nahe, von den Parteien erneut Stellungnahmen zur Deponie einzuholen, um den Wählern in Speckenbüttel eine gute Informationsgrundlage beim Ankreuzen der Stimmzettel zu geben.

As größte Oppositionspartei konnte dabei die CDU auf ihre bereits vorhandene Unterstützung für die Bürgerinitiative verweisen. So hatten die Christdemokraten im September 2013 die Errichtung von Staubmessstellen im Umfeld der Deponie gefordert, was zunächst von Rot-Grün abgelehnt wurde. Auch eine Akteneinsicht hat die Mehrheit wochenlang verzögert. Ebenso wurde vom grünen Umweltsenator ein "Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern verweigert."

Wie die Einrichtung von Staubmessstellen, deren Einrichtung inzwischen ebenfalls von der alten Mehrheit nicht mehr ablehnt wird, hat die rot-grüne Koalition bisher auch die Einrichtung eines kleinräumigen Krebsregisters abgelehnt, wodurch mögliche gesundheitliche Folgen der Deponie erfasst werden sollen.

Die Christdemokraten wollen sich daher mit dem Thema "Grauer Wall" solange kritisch auseinandersetzen, "bis alle Fragen geklärt sind und sichergestellt ist, dass von der Deponie keine Gefahr für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger ausgeht.

Die CDU hat sich damit in der Stadtverordnetenversammlung bereits bisher durch Anträge für mehr Schadstoffmessungen und eine kleinräumige Auswertung des Bremer Krebsregisters für die Belange der Anwohner eingesetzt. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in Bremerhaven kam es jedoch zu Ablehnungen, wobei sich der Fraktionsvorsitzende der Grünen zumindest in den Augen von BIKEG exponierte, der sich dabei offenbar auf Hinweise von senatorischen Behörden Bremens stützte. Danach soll eine derartige Auswertung für Bremerhaven und damit auch für Speckenbüttel angeblich nicht möglich sein.

Es konnte hingegen gezeigt werden, dass das mit den Daten statistisch durchaus machbar ist, wenn ein in der Stadt Bremen benutzte Untergliederung des Stadtgebietes auch für Bremerhaven anwendet.

Ähnliche Positionen wie die CDU haben die FDP und die Linke eingenommen, in deren Wahlprogramm 2015 es heißt: "Wir treten für einen Stopp der Erweiterung der Deponie Grauer Wall ein und fordern stattdessen einen Rückbau."

Jetzt hatten am 10 Mai die Einwohner Speckenbüttels als Wähler das Wort. Sie konnten mit ihren Stimmen entweder für die Position der Bremer Regierungskoalition votieren, die die staatliche Deponie fortführen möchte und daher an keinen Analysen interessiert sein kann, die diesen betriebswirtschaftlichen Wunsch infrage stellen. Oder sie mussten einer der sonst sehr unterschiedlich ausgerichteten Parteien ihre Stimmen geben, die sich deutlich für mehr Kontrollen und ein Ende der Mülldeponie ausgesprochen haben.

Das Wählervotum fiel sehr eindeutig aus. Zieht man die Bürgerschaftswahl heran, verloren die Koalitionsparteien in Speckenbüttel über 17 Prozentpunkte, wobei das Gros mit einem Minus von 15,2 Punkten eindeutig auf die Grünen fiel. Die drei Parteien mit einer kritischen Haltung gegenüber der Deponie Grauer Wall konnten hingegen zulegen.

Unter dem Einfluss der unterschiedlichen Haltung zur Deponie Grauer Wall ist es damit zu einer deutlichen Veränderung der politischen Landschaft in Speckenbüttel gekommen. Die CDU wurde bei der Bürgerschaftswahl mit 31,2 % der Stimmen stärkste Partei. 2011 hatte sie noch mit 27,6 % knapp hinter der SPD und nur eine Handbreit vor den Grünen gelegen, die damals 27,0 % erreichten. Das war ein Ergebnis vor dem Hintergrund der Fukushima-Katastrophe und vor der von der Kanzlerin beschlossenen Energiewende in Deutschland. Die veränderte Lage hat in ganz Bremerhaven zu einer Normalisierung des Wählerverhaltens geführt. Die Einstellung der Grünen in der Deponie-Frage hatte jedoch fast eine Drittelung des Stimmenanteil der Ökopartei zur Folge. Die Grünen sind jetzt nicht mehr fast die zweitstärkste Partei in Speckenbüttel, sondern spielen eher in der Größenklasse der FDP.

Das wirkt sich auch auf die Mehrheitsverhältnisse aus; denn den 39,1 % der Stimmen beiden Koalitionsparteien stehen jetzt in Speckenbüttel 48,0 % für die drei wesentlichen Deponie-Kritiker gegenüber.

Entscheidender ist jedoch die Verteilung der Mandate in der Stadtverordnetenversammlung. Hier hat zwar die rot-grüne Regierungskoalition mit nur noch 22 von 48 Sitzen die Mehrheit verloren, die erklärten Deponiegegner bringen es jedoch trotz ihrer Gewinne selbst nur auf 18. Man muss sich also unter den neun Vertretern kleiner Parteien noch nach Abgeordneten umsehen, die ebenfalls die Gesundheit der Anwohner der Mülldeponie Grauer Wolf für eine wichtige politische Aufgabe halten.

Der Bürgerwille, wie er sich in der Wahl von Parteien äußert, die eine abweichende Position zur Deponie Grauer Wall einnehmen, spricht hier eine eindeutige Sprache und müsste auch andere Parteien überzeugen.


Anteile der Parteien in der Bürgerschaftswahl 2015 in Speckenbüttel (in %)


Partei
Bremerhaven
2015
Differenz 2011-5
Speckenbüttel2015
Differenz 2011-5
Wahlbeteiligung
40,5
-7,6
62,0
-6,4
SPD
34,0
-0,3
28,7
-0,4
Grüne
11,2
-10,6
10,4
-16,5
CDU
23,8
3,8
31,2
3,6
Linke
7,0
2,4
5,8
3,2
FDP
5,5
2,4
11,1
5,9
AfD
5,0
5,0
3,9
3,9
BiW
6,5
-0,6
4,3
0,2
NPD
1,5
-0,8
0,7
-0,3
Piraten
2,5
0,5
1,3
0,4
PARTEI
1,8
1,8
1,8
1,8
Tierschutz
1,4
1,4
0,9
0,9


Damit hat haben Rot und vor allem Grün 22,9 Prozentpunkte in Speckenbüttel verloren. Das ist deutlich mehr als die 10,9 Prozentpunkte in die gesamten Stadt Bremerhaven. Profitiert haben hiervon die drei Gegner der bisherigen Politik zur Problemdeponie Grauer Wall mit 12,5 Prozentpunkten, während sie in Bremen insgesamt 8,6 Prozentpunkte gewonnen haben. Das Wählervotum ist also eindeutig und man kann erwarten, dass es aufrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse in Bremerhaven auch zu praktischen Änderungen bei der Beurteilung des Risikos "Grauer Wall" kommt.



Endlich eine Stimme für eine fußläufige Anbindung an das Zollausland: 

DIE PARTEI erringt einen Sitz in der Stadtbürgerschaft








Mit einem Programm, das ohne Kopierarbeiten aus den entsprechenden Absichtserklärungen der großen Konkurrenten auskommen konnte, trat erstmals in Bremenhaven die PARTEI an und konnte gleich einen Überraschungserfolg erzielen, den nicht jede Kenner der Bremerhavener Politik erwartet hatte. Mit den Worten des römischen Kaisers und Feldherrn Julius Caesar kann man also feststellen: DIE Partei kam, sah und siegte auch in Bremerhaven.


Der Erfolg ist besonders ungewöhnlich, da diese einzige deutsche Satirepartei bisher weitgehend nur in alternativen Quartieren deutscher Hochschulstädte Wähleranteile erzielen konnte, die für ein kommunales Mandat ausreichten.  




Hilfreich war das Bremer Wahlgesetz, da anders etwa als nach dem sächsische nicht in jedem Wahlbezirk ein eigener Kandidat aufgestellt werden muss, für den zahlreiche Unterstützerunterschriften zu sammeln sind, bevor er zumindest als Zählkandidat anerkannt wird. So gingen etwa Anfang des Jahres die relativ hohen Stimmengewinne de PARTEI in Dresden bei Abrechnung verloren, da in zahlreichen Wahlkreisen niemand die PARTEI wählen konnte, weil ein möglicher Kandidat die Unterschriftenhürde nicht geschafft hatte. 

Das war jetzt nicht erforderlich, da für ganz Bremerhaven eine "Stadtliste" zählt, auf der DIE PARTEI mit sieben männliche Kandidaten vertreten war. Dieser Newcomer hatte also den Mut, auf eine Frauenquote zu verzichten. Das entspricht jedoch ganz dem Parteiprogramm, das stattdessen bei der diesjährigen Europawahl eine Faulenquote als Ziel gefordert hat. So darf man also den Eindruck haben, dass Frauen weniger als Männer eine Antenne für eine Verbindung von Politik und Realsatire besitzen und daher in de PARTEI schwächer vertreten sind.  


Wie auch in anderen Städten, in denen die PARTEI bereits kandidiert hat und ein Mitglied in den Stadtrat entsenden konnte, enthielt auch das Bremerhavener Wahlprogramm eine Mixtur von Zielen, die sich satirisch mit wichtigen Problemen der Kommunalpolitik beschäftigen, oder eher an Gehirnleistungen erinnern, die sich nur als Ergebnis reichlichen Alkoholgenusses interpretieren lassen. In Bremerhaven gehörten dazu eine "wetterunabhängige Energie-Versorgung durch Indoor-Windparks", womit auf den Ausbau dieser neuen Industrie in Bremerhaven und ihr großes Problem angesprochen wurde. Auf den ebenfalls staatlich besonders geförderten Tourismus bezieht sich die Forderung des Baus eines Fußgänger-Tunnels von Bremerhaven nach Helgoland, um "neue Arbeitsplätze im Freizeitgewerbe zu schaffen". Dabei ist auch an die Attraktivität von Helgoland als Einkaufsort vor allem für alkoholische Getränke gedacht.

Auch für die hohe tatsächliche und von der Bevölkerung wahrgenommene Kriminalität in Bremen und Bremerhaven wusste die PARTEI einen Lösungsansatz. Man forderte, ganz im Stile professioneller Politiker, zur Senkung der Kriminalitätsrate "eine Ausbildungs- und Ansiedlungsoffensive für Superhelden". Diese aus den Medien nur zu bekannten Kriminalitätsbekämpfer sollten entsprechend den Vorlieben der Bremer Wirtschaftspolitiker über "eine landeseigene Beschäftigungsgesellschaft auf die Stadtteile verteilt" werden, "wo sie durch ihre Präsenz Vertrauen schaffen und das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger stärken."

Der Slogan der Satirepartei für die Deponie "Graue Wall" kam hingegen offensichtlich bei den Betroffenen nicht so gut an; denn in Speckenbüttel erzielte die PARTEI in der Wahl zu Stadtverordnetenversammlung nur unterdurchschnittliche 1,8 % der Stimmen. Hier sahen offenbar die tatsächlich Betroffenen in dem Vorschlag, den "Grauen Wall“ abzutragen und, in Salzstreuern abgefüllt, an alle Bremerhavener Haushalte zu verteilen, ihr Sorge nicht ausreichend ernst genommen. 


Das dürfte ein geforderte gratis Schwarzfahren auf mehr Unterstützer bei den hier besonders interessieren Bevölkerungsgruppen gestoßen sein, also den Schwarzfahrer, aber nicht den Steuerzahlern, von denen die ÖPNV-Kosten aufgebracht werden müssen.


 .
                                                      Quelle: Landeswaheiter



Ganz anders als in Speckenbüttel schaffte die PARTEI aber über eine Reihe anderer Ostteile den Einzug in die Stadtverordnetenversammmlung. So schnitt sie besonders gut im Wahllokal Lloyd Gymnasium an der Wiener Straße ab, das zum Ortsteil Mitte-Nord gehört. Dort wurde die PARTEI mit 123 oder 6,5 % der Stimmen viertstärkste Partei, hat dort also mehr Stimmen als Linke, AfD und BiW errungen.

Der Unterschied gegenüber der Stimmenabgabe für die Bremer Bürgerschaft in diesem Wahlbezirk ist keine Ausnahme, denn auch insgesamt lag der Anteil der PARTEI bei der Stadtverordnetenwahl mit 2,0 % über dem bei der gleichzeitigen Bürgerschaftswahl von 1,8 %. 

Die Wähler der PARTEI haben damit nicht so unüberlegt ihre Stimme "verschenkt", wie das die Kritiker dieser Partei häufig erklären. Ein Teil hat sich jedenfalls so klug verhalten, die PARTEI so zu wählen, dass die eigenen Stimmen nicht wegen des erwartbaren Verfehlens der 5 %-Klausel verloren ging, sondern haben für eine etwas andere Stimme in der Stadtverordnetenversammlung gesorgt.





Die Wahlberechtigten haben in Bremerhaven somit ganz unterschiedlich auf die bereits seit Jahrzehnten schwierige wirtschaftliche Lage ihrer Stadt reagiert: viele sind der Wahl fern geblieben, andere haben für eine Satirepartei gestimmt, weil sie offenbar mit der konventionellen Politik keine positiven Erwartungen verknüpfen, aber eine große Gruppe hat auch für eine Änderung der konkreten Stadtpolitik votiert, was im Ortsteil Speckenbüttel besonders deutlich wird.

Wie der Erfolg des Einzelkandidaten Prof. Jürgen Milchert zeigt, war ein Einzug in die Stadtverordnetenversammlung in dieser Wahl sogar relativ einfach, da hierfür bereits 1,1 % der Stimmen ausgereichten.



                                                 Quelle: Landeswahlleiter 



Bremerhaven im bremischen politischen System



Bremerhaven scheint damit ein lebhaftes und funktionsfähiges politische System zu besitzen, bei dem die Politiker nicht machen können, was sie wollen, ohne dass es eine deutliche Reaktion der Wähler gibt. Zwar ist am 10. Mai mit 61,7 % ein noch größerer Anteil der Wahlberechtigten zuhause geblieben, wodurch die "Partei" der Nichtwähler weiter deutlich um 8,5 Prozentpunkte gewachsen ist. Das stellt einen negativen Rekord dar, der eine deutliche Entfremdung zwischen dem politischen System mit seinen Parteien und Politikern auf der einen Seite und bereits fast zwei Dritteln der Wähler auf der anderen Seite, die Politik offenbar nur noch als mediale Unterhaltung erleben, aber nicht mehr als Möglichkeit zur eigenen Beteiligung sehen, um eigene Vorstellungen einzubringen und, wenn sich dafür eine Mehrheit findet, umzusetzen. 

Aber es gibt auch andere Wahlberechtigte, die einer der zahlreichen Parteien ihre Stimme geben, die sehr sachliche oder auch satirische Meinungen in den politischen Prozess einbringen. Das kann - ganz unabhängig von der Wahlbeteiligung - durchaus zu Änderungen führen, die sogar in dem sonst meist politisch wenig mobilen Bremerhaven am 10. Mai erfolgen konnten.



Quellen:


Online-Wahldaten:


http://wahlen.bremerhaven.de/stvv/2015/

http://wahlen.bremerhaven.de/stvv/2011/

http://www.wahlen-bremen.de/app/ltw2015-bhv-laab.html



http://www.bremerhaven.de/stadt-politik/stadtinformation/statistik-und-zahlen/

http://www.bremerhaven.de/pdf/Statistik/Kurzbericht_Januar_2015/#3/z (Ausländeranteil9


Quellen:

Fründt, Steffen
Optimisten gesucht: Bremerhavens Kampf um eine lebenswerte Zukunft, in: Welt am Sonntag vom 3.8.2008.

Krämer, Wolf, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Bremerhaven. Problemlagen und Perspektiven. Situations-, Akteurs- und Ressourcenanalyse für den Lokalen Aktionsplan Bremerhaven, Bremerhaven, Dezember 2010.

Neu, Viola, Bürgerschaftswahl in Bremen am 13. Mai 2007. Wahlanalyse,
Berlin, Mai 2007. (Onlinepublikation der 
Konrad-Adenauer-Stiftung).

Probst, Lothar, Politische Mythen und symbolische Verständigung. Eine Lokalstudie über die rechtspopulistische DVU in Bremen. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Bd. 26, Heft 1 (1995) S. 5-12.

Statistisches Landesamt Bremen (Hg), Ergebnisse der Bürgerschaftswahl für die Stadt Bremerhaven ; S. 21 - 26, Bremen 2007 (Statistische Mitteilungen. Heft 110).


Ugurcu, Denis, Die rechtsextreme DVU in der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung - zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Diss. Uni Bremen 2009.

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